Der Kranke / die Krankheit als Teil gesellschaftlicher Konstruktion
Krankheit existiert nicht losgelöst von der Vorstellung, die wir uns von ihr machen. Diese Vorstellung wird vom aktuell herrschenden Weltbild, vom Zeitgeist und dem Stand des aktuell herrschenden Wissens über die Krankheit gebildet. Dabei ist unser Wissen über die Krankheit und unsere aktuelle Weltsicht nichts unabänderliches, nichts bewiesenes, sondern ständig im Fluss und Veränderungen unterlegen. So wie wir ein Haus oder eine Maschine konstruieren, konstruieren wir unser Bild, unsere Sichtweise von einer Krankheit. Diese Konstruktion mag sinnvoll sein, weil sie an der einen oder anderen Stelle helfen kann. Aber auch völlig andere Konstruktionen können hilfreich sein. Die traditionelle chinesische Medizin ist z.B. eine völlig andere Konstruktion und auch in manchen Fällen hilfreich. Unsere wissenschaftliche Medizin gaukelt uns ja nur Wahrheit und Beweis vor, ist aber eine Konstruktion, die derzeit in unser Weltbild und unser Denksystem passt.
Auch der Kranke gilt nur deshalb als krank, weil er nach aktuell gesellschaftlich herrschenden Anschauungen und Prinzipien als krank definiert ist. Ist Haarausfall oder Altersvergesslichkeit nun eine Krankheit? Je nachdem, wie die Gesellschaft sich dazu mehrheitlich positioniert, gelten die Betroffenen als Krank oder als nicht krank. Sind religiöse Wahnwahrnehmungen und Halluzinationen nun Ausdruck einer Krankheit namens Schizophrenie oder die Besessenheit vom Teufel? Je nachdem, wie die Gesellschaft dies am besten zu ihrer aktuell herrschenden Weltsicht passend sieht, wird sie sich entscheiden, die eine oder andere Erklärung vorzuziehen.
Die psychogene Verursachung von Krankheiten
Der Mensch ist ein geistiges Wesen. Er zeichnet sich durch Denken, Fühlen, Glauben, vorausschauendes Planen und Selbsterkenntnis, aber auch durch eine komplexe und komplizierte Einbindung in eine menschliche Gemeinschaft aus. Bei Tieren kennt man auch etliche Krankheiten, die denen von menschlichen Krankheiten vergleichbar sind. Aber die meisten menschlichen Krankheiten gibt es bei Tieren nicht. Das was wir heute in der modernen Biomedizin über unsere Krankheiten wissen, sind lediglich die Folgen von Krankheit, die sich durch bestimmte Symptome oder Untersuchungs- und Messergebnisse ausdrücken. Über die eigentliche Ursache von Krankheiten wissen wir fast nichts. Was ist die Ursache, was der Auslöser einer Krebserkrankung, einer Demenz, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung? Wir wissen es nicht. Wir definieren zwar Risikofaktoren, d.h. begleitende Gesundheitsstörungen, die im Vorlauf einer solchen Krankheit gehäuft gefunden werden. Diese Risikofaktoren haben aber mit der Ursache der Erkrankung nichts gemein.
Da wir als Menschen geistige Wesen sind und auch eine Vielzahl spezieller menschlicher Erkrankungen kennen, ist davon auszugehen, dass die auslösende Ursache, der Ursprung einer Krankheit in geistigen bzw. psychischen Phänomenen liegt. Wieso wissen wir so wenig darüber? Psychische und geistige Phänomene sind immer etwas sehr individuelles und nie oder kaum mit statistischen Regeln zu erfassen. Zudem läuft das Allermeiste unbewusst für den Betroffenen und für die Umgebung ab. Es handelt sich insofern um einen verborgenen geistig-seelischen Vorgang, der allmählich und anfangs unscheinbar Auswirkungen auf den Körper nimmt und dann als Krankheit, wie wir sie kennen, sich zeigt. Hier wird man mit wissenschaftlichen, insbesondere statistischen Methoden kaum nennenswert weiterkommen. Andere Medizinsysteme bauen hier sehr viel mehr auf die Intuition. Unsere hochspezialisierten Behandlungsmethoden können nur bedingt erfolgreich sein, da sie auf die körperlichen Auswirkungen der Krankheit gerichtet sind und nicht auf deren Ursache. Dies erklärt auch, warum erfolgreiche Tierexperimente bei der Übertragung auf den Menschen häufig so erfolglos sind. die Krankheiten von Tieren, auch dann, wenn sie künstlich erzeugt wurden, sind nun mal nicht oder kaum von geistig-seelischen Phänomenen ausgelöst. Kranken kann man heute und zukünftig nur gerecht werden und umfassend helfen, wenn man sie als Ganzes in den Blick nimmt, ihre sozialen Bezüge, ihr Wollen, Fühlen, Denken und ihren Lebensverlauf. Dies gilt im Übrigen auch für Unfallverletzungen oder Erbkrankheiten, die scheinbar nicht psychisch verursacht sind. Aber auch einem Unfall gehen bestimmte Aktivitäten, Ziele und Wünsche voraus. Auch eine Erbkrankheit hat meist bisher nicht bekannte Ursachen, die darüber entscheiden, ob der Krankheitsdurchbruch schwerer oder leichter erfolgt. Sie ist im Übrigen ein Beispiel dafür, dass Krankheitsverursachung nicht nur vom einzelnen Schicksal bestimmt wird, sondern auch mitzutragen ist an den Schicksalen und Ursachen zurückreichender Generationen.
Der Mangel an Sinn als Krankheitsursache
Wenn der Mensch zu sehr auf die Erfüllung kurzfristiger Wünsche und Bedürfnisse ausgerichtet ist, Selbstverwirklichung, Erfolg, Macht, Geld und Ruhm als Maßstab seines Lebens betrachtet, wenn er zuviel unerfüllte, aber auch erfüllte Wünsche, Sehnsüchte, Erwartungen hat, dann ist er besonders anfällig für Unzufriedenheit, Angst, Leid und Krankheiten. Jeder Mensch braucht eine Richtschnur, etwas, was er als wertvoll, als sinnvoll im Leben erkennt und an dem er sich orientiert. Bei Orientierungslosigkeit kann selbst eine harmlose Krankheit schnell zur Richtschnur, zum Lebensinhalt, zum Sinn werden. Bescheidenheit und Selbstlosigkeit, auch ideelle und nicht materielle Werte sind am besten geeignet, Krankheit zu vermeiden oder Krankheit zu überwinden bzw. mit nicht heilbarer Krankheit sinnvoll umzugehen. Krankheit kann insofern nicht losgelöst von den eigenen Werten, dem eigenen Maßstab, dem eigenen Lebenssinn auftreten und verlaufen. Ob ein Rückenschmerz nach einigen Tagen oder Wochen überwunden ist oder zum Dauerproblem mit Leistungsunfähigkeit wird, hängt nicht so sehr vom Organbefund am Rücken ab, sondern sehr viel mehr vom Wert, von der Bedeutung, die dem Rückenschmerz zugemessen wird und von den sonstigen Werten und Lebensinhalten, die meine Position zu und meinen Umgang mit dem Rückenschmerz bestimmen. Ein Lebenssinn, der auf Selbstbezogenheit, auf Körperbezogenheit und jugendliches Erscheinungsbild ausgerichtet ist, ist besonders geeignet, krankhafte Störungen auszulösen, zu unterhalten und zu verschlimmern, denn die Krankheit steht dann dem eigenen Selbstbild entgegen. Sie kann dann nur Feind und Defekt sein und ist geeignet, eine Sinn- und Wertekrise zu verursachen. Dort wo Krankheit das Selbstverständnis, die eigenen Werte und den erkannten Lebenssinn nicht wesentlich beeinträchtigt, hat sie einen geringeren Stellenwert und ist besser überwindbar oder besser ins Leben integrierbar.
Die Biomedizin sieht und behandelt nur Krankheitsfolgen
Die Biomedizin diagnostiziert Krankheiten anhand von Befunden und bewertet den Behandlungserfolg wiederum anhand dieser Befunde. Befunde sind aber nichts anderes als Äußerungsformen einer Krankheit. In der Biomedizin sind dies in erster Linie Laborbefunde, Röntgen- und Ultraschallbildbefunde, also messtechnische Verfahren. Hier wurde aus Erfahrungswissen willkürlich für fast alle Krankheiten festgelegt, ab welcher Grenze Messwerte als krankhaft gelten. Die in der Biomedizin erhobenen Befunde und Messwertabweichungen sind aber nichts anderes als Krankheitsfolgen, sozusagen materiell sichtbare Folgeerscheinungen einer Krankheit. Krankheitsbezeichnungen und Krankheitsbehandlungen leiten sich fast ausschließlich hieraus ab.
Dabei ist es doch von Bedeutung, dass die Symptome, die Beschwerden ein und derselben Krankheit sich von Patient zu Patient häufig unterscheiden. Andererseits gibt es bei ganz unterschiedlichen Krankheiten nicht selten gleiche Symptome. Oft geht auch die Besserung oder Rückbildung von Symptomen nicht zwangsläufig mit einer biomedizinisch festgestellten Besserung der Krankheit, d.h. Besserung der Messparameter einher. Symptome können sich bessern, ohne dass sich die Krankheit bessert. Symptome können bestehen bleiben oder sich sogar verstärken, obwohl die Krankheit sich nach biomedizinischen Maßstäben bessert. Zudem verändern sich Symptome im Laufe einer Krankheit und sie gleichen sich fast immer den Symptomen an, die als typisch für eine bestimmte Krankheit gelten. Hierbei spielt Erwartung, Angst, Wissen über die Erkrankung eine Rolle.
Die Biomedizin weiß heute nichts über die eigentlichen Ursachen einer Krankheit. Sie weiß noch nicht einmal etwas genaueres über die Vorgänge, die ablaufen, bis die Krankheit biomedizinisch messbar, erfassbar ist. Insofern ist die Biomedizin die Wissenschaft von den körperlich fassbaren Folgen und nicht von den Ursachen einer Krankheit. Sie befasst sich nur mit einem kleinen Anteil dessen, was eine Krankheit ausmacht und hat dies ungerechtfertigt aufgebläht zum Anspruch, Krankheit allumfassend und hochdifferenziert erfassen zu können. Bei dieser Herangehensweise verwundert es nicht, dass die Biomedizin bei fast allen chronischen Erkrankungen kaum oder nur unzulängliche Hilfen bieten kann und keine Heilung bewirken kann. Chronische Krankheiten machen aber den allergrößten Teil von Arztkonsultationen und Hilfeersuchen aus.
Die philosophische und religi�se Dimension von Krankheit
Krankheit ist mit biomedizinischen Methoden nur unvollständig und sehr einseitig fassbar. Eine Krankheit ist nur in den seltensten Fällen eine körperliche Störung, die es zu reparieren gilt. Krankheit ist sehr viel mehr. Sie hat psychologische, philosophische und religiöse Bedeutung. Zum Einen sind die Krankheiten und das, was wir von Ihnen glauben zu wissen, Bestandteil unserer aktuellen Weltsicht und insofern vom philosophischen Weltbild geprägt. Eine Krankheit heute in unserer Gesellschaft ist niemals die gleiche wie vor hundert oder tausend Jahren oder in einem ganz anderen Kulturkreis, sondern nur dann, wenn wir mit unserem speziellen Blick zurück oder anderswohin auf Krankheiten blicken. Eine Arteriosklerose war weder im alten Ägypten noch ist sie im ländlichen China oder Indien das gleiche, was wir heute und hier unter Arteriosklerose verstehen. Auch die Beschwerden, die diese Krankheit verursacht hat oder verursacht, sind dabei nicht wirklich vergleichbar, denn sie standen und stehen in einem anderen Zusammenhang zum herrschenden Weltbild.
Jeden chronisch oder unheilbar Kranken interessiert die Frage: Warum gerade ich? Was hat diese Krankheit für einen Sinn? Fragen, auf die es biomedizinisch keine Antwort gibt, sondern nur philosophisch oder religiös. Die Frage nach dem Wert, den Sinn meines Lebens mit einer schweren Krankheit, die Möglichkeit, dass eine schwere Krankheit in Tod mündet, dass jedes Leben auch von Krankheit, Gebrechen und schließlich Tod gekennzeichnet ist, sind Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod und damit religiöse oder metaphysische Fragen.
Krankheit ist in unserer Gesellschaft heute mit Abstand die elementarste und unmittelbarste Form der Konfrontation mit Lebenssinn, Lebensziel und der Frage nach dem Leben nach dem Tod. Krankheiten sind nicht zu verstehen ohne ihre Bedeutung in der Gesellschaft, im Leben, aber auch in Bezug auf den Tod. Dies sind auch sehr viel allgemeingültigere und beständigere Fragen als die Frage nach der aktuellen Bezeichnung oder Behandlung einer Krankheit, deren Antwort in der Biomedizin ständig im Fluss ist.